Auszüge aus den Briefen der letzten 10 Jahre

Extrema, 1.11.1993

Liebe Frau Renate Rothe,

Darf ich uns vorstellen? Oscar und Renata, wir führen zusammen das Waisenheim in Extrema, Brasilien.

Was ist unser Ziel? Wir möchten brasilianische Straßenkinder aufnehmen auf unserem Bauernhof und ihnen dort eine positive Lebenseinstellung mitgeben fürs Leben.

Wo wird das stattfinden? Auf einem Bauernhof im Süden von Minas Gerais. Wir haben dort Hühner, Kühe, Pferde, Ziegen, Gänse und Fischteiche, haben einen eigenen Gemüse- und Obstgarten und vor allem viel Grün und Wald.

Wie möchten wir das erreichen? Durch eine aktive Teilnahme am Leben auf dem Lande. Jedes Kind wird Verantwortung übernehmen, betreut ein Tier und macht mit im Gemüsegarten. Außerdem gibt es die Möglichkeit mit Holz und Stoff zu basteln, damit Fähigkeiten angelernt werden. Betreut werden sie von uns, unterstützt von mehreren Angestellten, die alle auf dem Gelände leben.

Wann geht es los? Im Dezember kommen die ersten 8 Kinder aus São Paulo. Zu erst werden wir arbeiten mit bis zu 30 Kindern. Später werden wir zusätzlich Kinder aufnehmen. Wir sind überzeugt, dass wir im Stande sind, sowohl materielle als auch emotionelle Förderungen den Kindern bieten zu können. Wir werden sie so lange erziehen, bis sie im Stande sind ein eigenes Leben in voller Verantwortung zu übernehmen.

 

Extrema, 1994

Über die Kinder:

Das erste Bad und neue Kleidung machen das erste Wunder. Nach einer Weile sind die meisten auch wurmfrei. Auch wird kaum noch auf dem Kopf gekratzt. Brillenträger werden versorgt und Zähne umgebaut. Viel Erfolg in der Schule haben wir leider nicht, nur vier Kinder haben das Jahr bestanden. Viele sind aber spät im Jahr in die Schule eingetreten. Das wird sich bestimmt bessern. Viele Ärzte und Rechtsanwälte werden wir aber nicht erzeugen. Muss ja auch nicht sein. Hauptsache, dass jedes Kind seine Fähigkeiten entfalten kann, die sind ja bei jedem Kind anders. Es ist gut zu wissen, dass wir mit euch in einer Welt leben, dass es eine Verbindung gibt.

 

Extrema, 11.11.1994

Es braucht viel Liebe. Geduld. Toleranz und Verständnis. Die Kinder sehen nach einem Bad und neuer Kleidung aus wie alle anderen. Aber der erste Eindruck täuscht. Das Leben hat aus ihnen ängstliche, misstrauische und aggressive Wesen gemacht. Damit eine Alternative für Lügen, Schlägereien, Drogen, Diebstahl, Vandalismus und sexuellen Missbrauch aufgebaut wird, brauchen wir viel Zeit. Liebe heilt mit der Zeit alle Wunden. Wir versuchen ein Zusammenleben aufzubauen, in dem Kinder stimuliert werden, wo es Gerechtigkeit gibt, in dem es sich sicher fühlt und akzeptiert wird, wo es unterstützt wird, damit es Selbstvertrauen und Vertrauen in Andere bekommt. Wir versuchen ein Verhältnis aufzubauen, das einen Ersatz bietet für die verlorenen Eltern. Um das zu erreichen, ist unser “Recanto São Francisco” da. Weit von der Stadt entfernt. In einer Berglandschaft. Fast wie eine Insel. Es entspricht ganz gewiss nicht der Wirklichkeit, der Außenwelt. Aber das muss ja nicht sein. Hier möchten wir zeigen, dass das Leben schön sein kann.

 

Extrema, Dezember 1994

Das Heim funktioniert, es hat jetzt 18 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren. Die jüngeren Kinder werden bis jetzt schnell adoptiert. Auch hier ist das Interesse an Babys groß. Die älteren Kinder bleiben zurück. Meistens, weil sie schon so viel erlitten haben, das verlorene Vertrauen in die Welt und die Erwachsenen, eine ab und zu aggressive Haltung, und bestimmte Errungenschaften von der Straße direkt abschrecken. Da hat das Leben tiefe Narben zurückgelassen und es dauert lange, bevor das verlorene Vertrauen zurückgefunden wird. Auch wenn die Außenwelt unsere Kinder als schwere Fälle bezeichnet, haben wir viel Vertrauen für die Zukunft. Zum Glück helfen das Grün, Wasser und Berge die Energie neu zu kanalisieren. Im Heim ist viel Platz für Spiel und Aktivität. Da wird geschwommen, gepflanzt und Brot und Käse gemacht. Nach einer gewissen Zeit gibt es weniger Aggressivität und es ist mehr Platz für Friede und Harmonie. Wir haben aber nicht immer Erfolg. Wir müssen einsehen, dass wir Grenzen haben. Vier Kinder haben wir weiter schicken müssen. Wir waren nicht im Stande, ohne unsere Prinzipien und unseren Familiengeist aufzugeben, ihnen zu helfen. Da ist das Wohlbefinden der ganzen Gruppe in Gefahr. Helfen können wir nur denjenigen, die Wert auf das legen, was wir zu bieten haben. Wir haben viel lernen dürfen.

 

Extrema, April 1995

Die Kinder machen große Fortschritte. Wenn sie von der Straße von uns aufgenommen werden, wissen wir nie, ob wir wirklich helfen können. Nur wenn sie wollen und Hilfe akzeptieren, sieht man bald Besserung. Zum Glück können wir jetzt positiv voller Hoffnung von unseren Kindern reden. Langsam entfalten sie sich als normale Kinder voller Lebensfreude und Respekt vor den Rechten anderer. Liebe können diese Kinder nun geben, falls sie die Liebe bekommen werden. Das ist die beste Therapie um Hass, Ängste, Frustrationen, Aggressivität und Misstrauen zu beseitigen. Das ist für uns eine große Verantwortung und eine wunderschöne Herausforderung.

 

Extrema, August 1995

Die Preise sind in Brasilien fast höher als in Deutschland und die Bedürfnisse der Kinder sind groß. Durch falsche Ernährung und ihr vergangenes Leben ist viel zu tun, damit Spuren verschwinden. Erst hier werden die Kinder, nach vielen Jahren, wurmfrei. Mit spiritueller Hilfe, Pädagogen, Psychologen, Ärzten und viel Liebe, Geborgenheit und Geduld bekommen die Kinder wieder Glauben ans Leben. Dies nachdem sie sexuell missbraucht, brutal behandelt (ein Kind ist z.B. von seinen Eltern ins Feuer gehalten worden, weil es nicht aufhören wollte zu weinen) oder gezwungen worden sind, zu stehlen oder Drogen zu verkaufen. Ich möchte nicht übertreiben, aber ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie ein Kind mit so einer Vergangenheit, sich als ein so liebes Wesen entfalten kann. Da kann man nur sagen, dass Liebe trotzdem stärker ist als Hass.

Ihr habt gefragt wohin das Geld geht.

Erstens für Einkäufe, im Supermarkt wird noch immer am meisten ausgegeben, auch wenn wir eigene Milch, Butter, Brot und Käse haben.

Zweitens Gehälter, es gibt insgesamt fünf Mitarbeiter im Haus und auf dem Bauernhof (ein Mindestgehalt in Brasilien liegt bei ca. 100 US $), und Transport, wir haben einen Traktor und einen Jeep von 1961, notwendig, da wir auf “unserer Insel” weit von der Stadt entfernt sind. Weiter haben wir noch immer Kosten beim Bau und Beendigung der Infrastruktur, aber da verdienen wir auf dem Bauernhof schon selber das Geld. Für Studium wird noch kein großes Geld ausgegeben, da die Kinder gerade erst anfangen. Sie sind ja noch nie zur Schule gegangen!

 

Extrema, 1997

Antwortbrief an unsere Jugendlichen

Am liebsten machen wir “Capoeira”. Das ist ein Tanz-Kampfsport, ohne dass man einander berührt. Es ist eine Überlieferung aus der Zeit der Sklaven, die durften ja nicht kämpfen, aber tanzen schon!

[ … ]

Wir lieben Musik, laut und ständig (auch wenn es den Erwachsenen auf den Wecker geht). Wir hören am liebsten Musica Caipira, das ist eine Art Country-Musik aus Brasilien. [ … ] Pop und Punk ist bei uns nicht sehr beliebt, aber was ist eigentlich “Techno”? Kann man das essen?

 

Extrema, 1998

Joselaine, eines der Mädchen, sie ist 12, war im Krankenhaus. Der Blinddarm musste raus. Jeder Eingriff in Brasilien ist ein Risiko. Für diejenigen, die Geld haben, ist die Verpflegung bestimmt so gut wie in Deutschland, für die anderen … (Träne aufgemalt!). Die Wunde hat sich schwer entzündet, kann auch nicht anders. Der Staat zahlt 18 US $ pro Krankenbett, davon müssen Ärzte, Schwestern, Essen, Putzmittel, Reparaturen und Medikamente bezahlt werden. So wird eine Wunde nur 1 x am Tag behandelt, wird dreckige Bettwäsche verwendet. Wir haben Joselaine aus dem Krankenhaus holen müssen und selbst gepflegt. Weiß nicht, was sonst passiert wäre. Dies in einem Land, wo bestimmte Politiker nach 4 Jahren “Arbeit” eine Altersrente fürs Leben bekommen, wo der amerikanische Präsident eifersüchtig werden würde. Schwer zu verstehen.

Im Heim haben wir endlich unser Auto umtauschen können. Das neue Auto hat sogar 20 Lebensjahre weniger, ein Toyota-Jeep von 1981. So lange die Räder nicht abfallen und der Motor nicht rausfällt, wird in Brasilien weitergefahren.

 

Extrema, Januar 2000

Trotz Schwierigkeiten (wir sind beraubt worden, Auto gestohlen, Geld gestohlen, Dokumente weg) fühlen wir uns stark. Wir leben in einer unheilen Welt. Groß ist die Herausforderung einen Beitrag zu leisten, diese Welt etwas gerechter zu machen. Es nützt nichts, zu reklamieren und sich zu ärgern. Wo man sich für das Gute einsetzt und versucht das Leben unserer Mitmenschen zu verbessern, gibt es immer Auswege und tut man sich immer finden. So vieles haben wir Gott zu verdanken und wissen, dass wir nie alleine stehen.

[ … ]

Ich freue mich zu sehen, wie unsere Kinder geschickt sind. Ich sehe, wie sie schon viele Fähigkeiten erworben haben und wenn es darauf ankommt, sie sich schon durchkämpfen können. Ich freue mich besonders, zusammen mit ihnen zu arbeiten. Handwerklich werden sie recht gut und haben viel Spaß bei der Arbeit. Habe noch immer das Gefühl, dass die Tage zu kurz sind und die Wochen zu schnell vorbei gehen.

 

Extrema, August 2001

Ihr seht, wir stehen nicht still. Viel Arbeit, aber auch große Erfolge. Die Kinder kommen wahnsinnig gut voran. Oft sind es die schwierigsten Kinder, bei denen man nachher die größte Befriedigung erhält. Sie sind diejenigen, die am schnellsten auf eine liebevolle Umgebung reagieren. Ich danke Gott und euch für die erreichten Erfolge. Alleine wäre unsere Arbeit nicht möglich. Gott beschütze euch, und ich hoffe. das ihr den Mut nicht verliert. Eure Aufgabe wird auch nicht immer einfach sein, denn nicht immer findet man Verständnis. Viel Kraft und Mut für eure Arbeit!

 

Extrema, Februar 2002

In Kurzem: wir sind nicht nur ein Waisenheim …. wir sind Ersatz-Familie, Psychologe und Schule zur gleichen Zeit. Vor allem versuchen wir, Lebensfreude und Eigenverantwortung wieder aufzubauen. Dazu viele Aktivitäten, wo Kinder wirklich Freude daran empfinden: Gemüsegarten, Fischteiche, Milch und Kühe, aber auch Handwerk und viel Sport und Spiel. Musik, Gesang, Theater, Zirkus und Akrobatik stehen im Mittelpunkt. Unsere Kinder haben vieles überlebt!!!